«Nachhaltigkeit wird wichtiger werden» Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner spricht im Interview über die Umsetzung des Vergaberechtes und die Bedeutung der Nachhaltigkeit für die Baubranche und den Werkplatz Schweiz. Er äussert seine persönliche Meinung. Montag, 17.2.2025 | 06:00 ... Schweizerischer Baumeisterverband Technik & Betriebswirtschaft Submissionen «Nachhaltigkeit wird wichtiger werden» Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner spricht im Interview über die Umsetzung des Vergaberechtes und die Bedeutung der Nachhaltigkeit für die Baubranche und den Werkplatz Schweiz. Er äussert seine persönliche Meinung.Im 2021 trat das revidierte Beschaffungsrecht BöB in Kraft. Sie hatten sich sehr für die Revision und den Paradigmenwechsel weg vom Preis- hin zum Qualitäts- und Nachhaltigkeitswettbewerb eingesetzt. Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Umsetzung?Zuerst möchte ich erwähnen, dass mich die Geschlossenheit, mit der sich die Baulobby für den Paradigmenwechsel eingesetzt hat, sehr gefreut hat. Was die Umsetzung betrifft, so sprach Cristina Schaffner, Direktorin von Bauenschweiz, von einer angezogenen Handbremse. Das ist nach der Vergaberechtsreform jedenfalls keine juristische Frage mehr, sondern eine Frage des Mindsets der Verantwortlichen. Die Denke muss sich ändern, und das schafft man nicht von heute auf morgen.Nehmen Sie trotzdem einen Vergabekulturwandel wahr?Neben Vergabestellen, die den Preis nach wie vor hoch gewichten, gibt es durchaus öffentliche Auftraggeber, die die Qualität höher gewichten als bisher und in ihre Ausschreibung Nachhaltigkeitsthemen wie die Kreislaufwirtschaft einbauen.Gibt es Anpassungen, die vorgenommen werden müssten?Die erste gab es am 1. Januar 2025: Der Artikel 30 des Beschaffungsrechtes des Bundes besagt nun, dass – soweit sich das Beschaffungsvorhaben dazu eignet – standardmässig ökologische technische Spezifikationen definiert werden müssen. Das ist eine wichtige Neuheit. Bisher war die Nachhaltigkeit als Kriterium nicht zwingend. Der Vergabekulturwandel war freiwillig. Jetzt sollten auf allen föderalen Ebenen, insbesondere auf Bundesebene, zusätzlich produktespezifische Weisungen erlassen werden. Hier ist insbesondere die Leadership der beim Bundesamt für Bauten und Logistik angegliederten strategischen Organe (KBOB und Beschaffungskonferenz des Bundes BKB) gefragt. Immerhin kennt der Bund einige Weisungen, etliche Kantone und Städte haben in ihren Einführungsgesetzen oder Reglementen bzw. Weisungen ebenfalls zwingende Vorgaben gemacht.Welche Kantone können in Sachen Vergaberecht als Vorbilder bezeichnet werden?Es gibt Kantone wie der Kantone Bern, die die Gemeinden beim Vergabekriterium Nachhaltigkeit unterstützen, weil die Nachhaltigkeit kein klar definierter Begriff ist. Sehr progressiv ist der Kanton Basel-Stadt in Bezug auf die Relativierung der Freiwilligkeit im Einführungsgesetz, aber auch der Kanton Zürich gibt ambitionierte Ziele zu erkennen. Der Kanton Bern hat einen Leitfaden verfasst, wie man Nachhaltigkeit bei Ausschreibungen berücksichtigt. Ich bin dann sehr gespannt, ob sich das insbesondere in Basel in der Praxis auch auf die Preisgewichtung so auswirkt, wie sich das der Reformgesetzgeber vorstellt.Das Zuschlagskriterium Nachhaltigkeit ist eine Chance ist für innovative Bauunternehmen. Gibt es für Vergabestellen verbindliche Richtlinien, wie der Begriff der Nachhaltigkeit zu interpretieren ist?Nein, daher müssen die Vergabestellen genau definieren, was sie unter der Nachhaltigkeit verstehen. Betrifft das nur ökologische Faktoren oder auch soziale? Diese Fragen müssen klar beantwortet werden. Auch, was die Schlüsselfaktoren sein sollen. Transparenz der Anforderungen ist ein Gesetzesziel des Vergaberechts.Gemäss dem Vergabemonitor der Schweizer Bauwirtschaft vom Sommer 2024 verharrte der Anteil Ausschreibungen mit Erwähnung von Nachhaltigkeitskriterien im laufenden Jahr bei 7,2 Prozent, was eine Zunahme von 12,9 Prozent gegenüber der Vorjahresvergleichsperiode bedeutet. Wie beurteilen Sie diese Zahl?Zuerst einmal möchte ich Bauenschweiz ein grosses Kompliment für die Schaffung des Vergabemonitor aussprechen. Das ist eine sehr gute Sache. Die Zahlen zeigen, dass die öffentlichen Beschaffungsstellen sich weniger an der Nachhaltigkeit orientieren, als es sich der Gesetzgeber vorgestellt hatte. Aber der Vergabemonitor macht auch klar, dass durch die richtigen Daten der Ambitionslevel der Auftraggeberinnen zum Thema gemacht werden kann. Da ist Musik drin. Stichwort: Benchmarking. Wenn wir es richtig machen, können wir das öffentliche Beschaffungswesen so von seinem Image als Technokratenthema befreien.Sind Bauunternehmen unter diesem Gesichtspunkt gut beraten, wenn sie sich mit nachhaltigeren Prozessen, Abläufen und Baumaterialien auseinandersetzen?Unbedingt. Es ist keine Frage, ob die Nachhaltigkeit ein wichtiges Vergabekriterium wird, sondern nur, in welchem Tempo die Transformation passieren wird. Darum ist es wichtig, dass die öffentliche Hand Anreize setzt für zukunftsfähige Business-Modelle. So bleibt die Bauwirtschaft wettbewerbsfähig.Sind Städte sensibilisierter auf eine nachhaltige Beschaffung als kleinere Gemeinden?Nicht zwingend, aber sie haben jedenfalls die professionelleren Strukturen. Das stellt uns bei der Vergabereform vor grosse Herausforderungen. Städte haben grosse Beschaffungsorganisationen mit Spezialisten, die sich sehr gut im Thema und in den relevanten Märkten auskennen. Für kleine Gemeinden ist die Vergaberechtsreform existenzieller, weil sie über keine entsprechende Beschaffungsorganisation mit Warengruppenstrategien verfügen. Man muss die Kantone dazu bringen, die Gemeinden bei Fragen zu Vergabe stärker zu unterstützen. Wie erwähnt machen das einige Kantone ja bereits. Nicht nur die Nachhaltigkeit ist beim revidierten öffentlichen Beschaffungsgesetz ein Thema, sondern auch Qualität und Innovation. Wenn Gemeinden über keine Marktkenntnis verfügen, können sie diesen Themen auch keine Chance geben. Deshalb sollten wir über Bündelung auf Auftraggeberseite und Kooperation völlig anders reden als bisher. In Finnland hat sich der Städte- und Gemeindeverband beispielsweise eine zentrale Beschaffungsstelle aufgebaut, die ähnlich funktioniert wie unser Bundesamt für Bauten und Logistik. (Schliesslich wurden diese Beschaffungsstelle und das finnische BBL fusioniert.)Es ist aber auch eine Möglichkeit, dass Bezirke oder Kantone den Gemeinden Rahmenverträge zur Verfügung stellen, die aus einer komplizierten kommunalen Beschaffung einen vergleichsweise einfachen Abruf von Leistungen machen. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass sich insbesondere kleinere Gemeinden in Zweckverbänden zusammentun, um die Beschaffung gemeinsam anzugehen und sich eine gemeinsame Beschaffungsorganisation zu bauen. Das wäre neben vielen anderen positiven Effekten auch eine Chance für die Bauwirtschaft, weil in den Ausschreibungen dank der erhöhten Professionalität der Auftraggeberseite vermehrt Nachhaltigkeit, Qualität und Innovation verlangt würden. Zivilstandsämter sind auch regional organisiert, Forstbetriebe ebenfalls.Das neue Vergaberecht fordert also die ausschreibenden Stellen. Riskieren diese, in ein rechtliches Minenfeld zu stolpern?Ich muss ganz ehrlich sein: Ja. es wird komplizierter. Es braucht mehr Aufwand und Know-how, wenn Qualität und Nachhaltigkeit wichtiger werden. Aber das ist nicht das Gleiche wie rechtliche Stolperfallen. Das neue Recht will diese gerade beseitigen. Einige Juristinnen und Juristen in Rechtsdiensten beraten noch konservativ, weil sie nicht sicher sind, dass dann auch die Gerichtsentscheide so sind wie das neue Gesetz. Darum halte ich immer häufiger Vorträge, die nicht mehr einfach das neue Recht darstellen, sondern ganz spezifisch Gerichtsentscheide zum Thema machen. Dies mit der Botschaft: Ein bisschen mutiger als bisher kann die Auftraggeberseite durchaus sein, ohne gleich rechtliche Risiken einzugehen.Die Plausibilität des Angebots wäre eine wichtige Prüfung, um unrealistische Lockangebote herauszufiltern oder Absprachen zu identifizieren. Das Kriterium ist unbestritten, selbst die Weko stellt es nicht in Abrede. Dennoch wenden die öffentlichen Bauherren es nicht an, genauso wenig wie die Verlässlichkeit des Preises. Hat da das Weko mit Ihrem Schreiben an die BPUK falsche Signale gesendet?Zum eigentlichen Thema der Rechtmässigkeit der umstrittenen Kriterien kann ich mich als Bundesverwaltungsrichter nicht äussern. Ich halte aber fest, dass das Sekretariat der Weko in meiner Wahrnehmung in der Einleitung ihres Schreibens den Paradigmenwechsel zu wenig betont hat. Ich hätte da einen Hinweis auf die Nachhaltigkeitsziele, das vorteilhafteste Angebot und vor allem auf eine Rückfragepflicht bei ungewöhnlich tiefen Preisen erwartet. Dass diese Aussagen fehlen, hat wahrscheinlich mit der kartellrechtlichen Prägung der Weko zu tun, wonach in jedem Markt der Preis der wichtigste Wettbewerbsparameter ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat indessen im Fall Estée Lauder gegen die Weko festgehalten, dass das nicht stimmt.Seit 1. Januar 2025 ist der neue Art 30 BöB in Kraft, der die Kreislaufwirtschaft stärkt. Damit das Potential des neuen Gesetzes aber auch tatsächlich voll ausgeschöpft wird, ist eine konsequente Umsetzung vonseiten des Bundes notwendig. Art. 30 kennt keine «kann»-Vorschrift mehr. Demgegenüber stehen nach wie vor viele «kann»-Formulierungen im Beschaffungsgesetz BöB beziehungsweise IVöB. Wird das zu Verzögerungen bei der Umsetzung führen?Es braucht im BöB ein deutlich stärkeres Bekenntnis zur Kreislaufwirtschaft. Was gut gelöst ist, sind ökologisch-technische Spezifikationen nach Art. 30 BöB, was fehlt, ist das Bewusstsein, dass es für die Kreislaufwirtschaft längere Verträge braucht. Eine gute Idee fände ich, wenn die Verordnung zum Beschaffungsgesetz (quasi im Sinne einer Ausführungsbestimmung zu Art. 15 Abs. 4 BöB) so ergänzt würde, dass insbesondere die Kreislaufwirtschaft ein gutes Argument ist, um die Regelvertragsdauer zu überschreiten.Vonseiten von Anbietern von rezyklierten Baustoffen wie Recyclingbeton hört man immer wieder, dass diese Produkte gerade von der öffentlichen Hand zu wenig nachgefragt werden. Wer steht hier auf dem Schlauch?Es ist mir ein Rätsel, warum das so ist. Hier stehen die Verantwortlichen bei der öffentlichen Hand in der Verantwortung. Ihr bisheriges Verhalten ist ein Nachteil für den Werkplatz Schweiz, weil so hiesige Anbietende nicht für ihr Engagement zugunsten der Umwelt belohnt werden. Hätte der Bund (ASTRA, SBB usw.) mehr nachhaltigen Stahl mit Recyclinganteil bestellt, gehe ich davon aus, dass Stahl Gerlafingen nicht die Probleme hätte, die es aktuell hat, weil das Unternehmen vorbildlich rezyklierten Stahl im Sortiment hat. Aber diese Zusammenhänge müssen wir auch einem breiteren Publikum erklären. Es kann nicht sein, dass diese Themen nur in Hinterzimmern diskutiert werden.Was können wir tun, damit die Handbremse gelöst wird?Das bereits erwähnte Vergabemonitoring ist ein gutes Instrument, weil es transparent offenlegt, wer sich vorwärts bewegt und wer nicht. Öffentliche Auftraggeber sollten eine Beschaffungsstrategie verabschieden. Ich denke da an den Bund selbst, an die Departemente – das VBS ist da vorbildlich -, alle zentralen Beschaffungsstellen, also das BBL, das ASTRA und die armasuisse. Damit lassen sich diese auch vergleichen und der unterschiedliche Ambitionslevel und die verschieden gesetzten Schwerpunkte werden zum Thema. Und wenn dann in der Umsetzung nicht das passiert, was in der Strategie steht, können das Wirtschaftsverbände ebenfalls mit knackigen Zitaten aus der Strategie aufnehmen. Eine Beschaffungsstrategie soll öffentlich einsehbar sein. Auch Gemeinden müssen motiviert werden, eine Beschaffungsstrategie bzw. Beschaffungsrichtlinien auszuarbeiten. Das ist ein grosser Hebel. Ein grosser Umsetzungshebel ist auch der Branchendialog. Einer der Gründe für den Erfolg der Vergaberechtsreform war die Arroganz der mächtigen Auftraggebenden gegenüber den Anbietenden und ihren Verbänden. Die Vergaberechtsreform ist eine echte Chance für einen neuen Geist. Augenhöhe ist der Schlüssel. Auftraggeberseite und Branche gehen aufeinander zu mit Ideen, wie die Zukunft aussehen könnte. Dadurch kann ein neues, sinnvolleres Anreizsystem für die Anbietenden geschaffen werden.Wie steht die Schweiz mit ihrem Vergaberecht im internationalen Vergleich da?Ich bin fasziniert von der österreichischen Art das Thema anzugehen. Die Österreicher haben ihre Beschaffung auf eine Art zentralisiert, von der wir hier nur träumen können. Inzwischen rufen Bundesländer und Kommunen beim österreichischen Pendant des Bundesamtes für Bauten und Logistik – der Bundesbeschaffung GmbH – mehr Leistungen ab als die Ministerien des Bundes. Wir müssen es nicht gleich machen, aber eine grössere Kooperation wäre unbedingt wünschenswert, gerade auf Gemeindeebene. Das zweite Element, das am österreichischen Modell besticht, sind die produktspezifischen Weisungen auf Bundesebene, die für alle Ministerien gelten. So wurde die Nachhaltigkeit auf Bundesebene im Anwendungsbereich dieser Weisungen verpflichtend. Denn eines ist klar: Wenn Milton Friedman für private Unternehmen die Maxime «The business of business is business.» geprägt hat, gilt im Verfassungsstaat für den öffentlichen Sektor: «The purpose of purpose is purpose.» Über den Autor Susanna Vanek [email protected] Artikel teilen