Ohne Realismus geht’s nicht

Immer mehr zu fordern, kann ins Auge gehen. In den laufenden Lohnverhandlungen geht es darum um eine realistische Sicht auf das Mögliche.

 

„Hans im Schneckenloch hat alles, was er will / Doch was er hat, das will er nicht / und was er will, das hat er nicht“ Bei den Lohnverhandlungen 2022 fühle ich mich oft an dieses Kinderlied erinnert. Statt sich für den Erhalt der Arbeitsplätze stark zu machen, stellen die Gewerkschaften unrealistische Forderungen auf. Und das in einer Zeit, in der niemand weiss, wie lange die Pandemie und damit die konjunkturelle Unsicherheit noch anhalten werden. Wer vor diesem Hintergrund mehr fordert, riskiert, dass er am Ende weniger hat.

Wir engagieren uns für die Sicherheit der Arbeitsplätze mit den notabene höchsten Handwerkermindestlöhnen in unserem Land. Wir tun dies mit Bedacht und Rücksicht auf die Realitäten auf dem Bau. Immer noch mehr zu fordern, überfordert aber die Baubetriebe und gefährdet Top-Arbeitsplätze mit heute sehr hohen Löhnen. Generelle Lohnerhöhungen sind im jetzigen Kontext unrealistisch. Hingegen spricht nichts dagegen, wenn Baufirmen gute Arbeitsleistungen mit individuellen Lohnerhöhungen honorieren.

Die Gewerkschaften hingegen müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie mit unrealistischen Forderungen Arbeitsplätze im Bauhauptgewerbe gefährden. Oder mit einem neuen Gesamtarbeitsvertrag wie in der Westschweiz für den Gartenbau. Mit solchem Verhalten gefährden die Gewerkschaften die Arbeitsplatzsicherheit im Bauhauptgewerbe. Wie kann man in benachbarten Branchen ein tieferes Lohnniveau propagieren und dann darauf hoffen, dass dies keine negativen Konsequenzen für die Baubranche hat? Das Auftreten der Gewerkschaften scheint mehr für die Zuschauer zu sein als für die Branchen und Menschen, die sie vertreten sollten. Soll mit dieser Taktik die sinkenden Mitgliederzahlen kaschiert werden? Ich hoffe nicht und vertraue darauf, dass die Gewerkschaften ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen. Denn das Lied vom Hans im Schneckenloch endete damit, dass er gar nichts mehr hatte.

 

Jeremy Benjamin, Vizedirektor, Leiter Arbeitgeberpolitik und Recht

Über den Autor

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Schweizerischer Baumeisterverband

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