Wie ich lernte, die Baustelle zu lieben

Seit vielen Jahren sind Baustellen die steten Begleiter im Leben des Autors. Er hält es kaum mehr mit ihnen aus. Doch ohne sie auch nicht.

Seit vielen Jahren sind Baustellen die steten Begleiter im Leben des Autors. Er hält es kaum mehr mit ihnen aus. Doch ohne sie auch nicht.

Es ist etwa acht Uhr morgens, dröhnender Lärm weckt mich. In Stössen kommt zuerst das Geräusch, dann, mit kurzer Verzögerung, geht ein Beben durch Wände und Böden. Ich springe aus dem Bett, gehe ans Fenster und sehe eine gigantische Maschine, mindestens fünfzehn Meter hoch, die sich am Boden der Baustelle gegenüber zu schaffen macht.

Seit knapp vier Jahren wohne ich hier. Nur ein halbes davon war mir in baustellenfreier Ruhe vergönnt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich den Glauben an das Ende der Baustellen aufgegeben. Mein Pech ist, dass ich von zu Hause aus arbeiten muss. Der Lärm gehört zu meinem Alltag, ob ich will oder nicht. Deshalb ging ich einen Schritt auf ihn zu und versuchte, ihn zu verstehen.

Ich stehe am Erkerfenster. Gegenüber reissen die Bagger in Fetzen, was ihre Zangen gerade zu greifen bekommen. Der Abbruch wirkt unsystematisch, derb, aber ich kann mich von dem Anblick der Zerstörung kaum losreissen.

Baustellen in der Stadt, die ja meist mit einem Abriss beginnen, haben es an sich, dass sie gleich zu Beginn laut und aufdringlich sind.  Die Baustelle beginnt früh, und sie kennt keine Gnade. Aber sie zwingt dich auch aus deinem Bett, wenn du mal wieder lieber etwas liegen bleiben würdest – ein Effekt, den ich begann, dankbar anzunehmen.

Mein Wecker ist die Baustelle. Sie ist mit der Zeit zur treuen Begleiterin geworden, während ich arbeite. Mittlerweile bedeutet der Lärm für mich auch Geschäftigkeit und, so paradox es klingt, Konzentration.

Während sie das Grundstück ausmessen, recherchiere ich auf Google. Während sie eine Ziegelwand spachteln, schreibe ich einen Absatz, während sie einen Schacht ausbaggern, kürze ich Unnötiges. Gegenüber sehe ich einen Arbeiter, der das Baugerüst nach oben erweitert. Er setzt Pfosten, Verstrebungen und Scharniere mit sicheren Handgriffen an die für sie vorgesehenen Orte. Ein, zwei treffsichere Schläge mit dem Hammer

Die Bewegung ist so eingeübt, dass er gleichzeitig schon zum nächsten Stück greifen kann und nicht einmal hinsehen muss. Wie ich so an meinem Schreibtisch sitze, bin ich ziemlich eifersüchtig auf ihn. Er ist eins mit seiner Tätigkeit, erledigt seine Aufgabe präzise und schnell. Ich dagegen sitze in meiner Höhle, starre in meinen Bildschirm, drehe die Dinge in meinem Kopf hin und her und versuche, meine Verwirrung zu entwirren.

Für mich ist die Baustelle zum Symbol für Fachwissen und Könnertum geworden.

Manche der Arbeiten, die ich vom Fenster aus beobachte, sind eher monoton, andere erschütternd oder packend, wieder andere rätselhaft. Bauarbeiter – das ist kein generisches Maskulinum, die Menschen, die ich hier arbeiten sehe, sind ausschliesslich Männer – sind ebenso geschickt darin, die Schaufel zu benutzen wie darin, den Bagger zu bedienen. Es liegt etwas Befriedigendes in ihrer Entschlossenheit und Ruhe. Vor allen Dingen aber: in der unangestrengten Zügigkeit, mit der sie diese Arbeit verrichten.

Für mich ist die Baustelle zum Symbol für Fachwissen und Könnertum geworden. Und auch dafür, dass es Menschen gibt, auf die man sich verlassen kann, die wissen, wie etwas geht, was sonst keiner weiss. Die Baustelle ist auch eine Bühne. Auf dieser Bühne spielen viele Figuren. Sie alle kommen und gehen, manche bleiben Wochen, andere nur ein paar Stunden. Manche treten im Ensemble auf, andere sind Solisten, doch insgesamt sind es sehr, sehr viele. Die Baustelle ist ein spektakuläres, ein schillerndes Beispiel der Arbeitsteilung.

Ich stelle mich ans Fenster, schaue auf die Baustelle. Ein letztes Mal lebt hier etwas Chaos und Unordnung auf. Ich blicke auf meinen Schreibtisch, wo ein Haufen Notizblätter, eine Kaffeetasse und ein Aspirinumherliegen, alles angefangene, aber noch nicht zu Ende gebrachte Prozesse, und denke: Das ist mir sympathisch.

Ich habe das Gefühl, meine Baustellen gut zu kennen. Zu gut, vielleicht. Als sie nach Weihnachten eine Weile stillgelegt waren, wurde ich unruhig. Ich merkte: Irgendetwas fehlt. Als es wieder losging, durchfuhr mich eine Welle der Zuneigung, erst danach kam die Verzweiflung.

 

Autor: Finn Schlichenmaier

Finn Schlichenmeier ist freier Journalist und lebt in Zürich. Dieser Text erschien erstmals Version im Magazin vom 17. November 2022.

Über den Autor

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Schweizerischer Baumeisterverband

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