«Man muss das algorithmische Denken verstehen und die Dinge kritisch hinterfragen»

Prof. Pierre Dillenbourg ist Vizepräsident für Bildung an der EPFL. Darüber hinaus hat sich der MOOC-Pionier auf die Interaktion von Mensch und Maschine spezialisiert.

Prof. Pierre Dillenbourg ist Vizepräsident für Bildung an der EPFL. Darüber hinaus hat sich der MOOC-Pionier auf die Interaktion von Mensch und Maschine spezialisiert. Er hat unter anderem das Swiss EdTech Collider an der EPFL gegründet, ein Zusammenschluss von rund 90 Start-Ups aus dem Bereich der Bildungstechnologien.

 

Wir leben in einer immer digitalisierteren Welt. Davor ist auch die Bildung nicht gefeit. Was hat sich in letzter Zeit in diesem Bereich getan?

Es hat eine komplette Vermischung des physischen und des digitalen Raums stattgefunden, und zwar in allen Domänen. Nehmen wir das Beispiel eines Gebäudes: Es ist sowohl ein physisches Objekt als auch ein digitales, wenn man es vor dem Hintergrund von BIM betrachtet. Dasselbe gilt für die Kompetenzen, denn es braucht beide Dimensionen. Ein Maurer muss beispielsweise über fachliche Kompetenzen verfügen, um zu wissen, wo er ein Bauelement errichten muss. Gleichzeitig braucht er digitales Wissen, damit er Systeme wie beispielsweise die digitalen BIM-Modelle lesen kann.

 

Die künstliche Intelligenz nimmt einen immer grösseren Stellenwert ein und löst mittlerweile Probleme, um die sich bisher der Mensch kümmern musste. Wie wirkt sich dies auf die Kompetenzentwicklung aus?

Technisches Wissen bleibt wichtig, auch wenn die Prozesse immer automatisierter ablaufen. Nehmen wir das Beispiel der Zimmerei: Es ist enorm wichtig, wie ein Balken auf die Säge gelegt wird, auch wenn der Schnitt ja rein mechanisch erfolgt. Dasselbe gilt für das Vorgehen beim Montieren der Balken. Natürlich löst die künstliche Intelligenz gewisse Probleme, um die sich bisher der Mensch kümmern musste, aber sie versteht den Kontext nicht. So ist sie beispielsweise in der Lage, eine Katze auf Tausenden Fotos von trockenen Katzen zu erkennen, aber glaubt, auf dem Foto einer nassen Katze eine Robbe zu erkennen. Damit wir keine Sklaven der Technik werden, müssen wir also das algorithmische Denken verstehen und die Dinge immer kritisch hinterfragen. Zudem ist es wichtig, einschätzen zu können, ob ein Resultat plausibel ist, auch wenn es von einer Maschine berechnet wurde. Oder die Mechanismen zu verstehen, die bei medizinischen Tests zu falsch-negativen oder falsch-positiven Resultaten führen, um ein sehr aktuelles Beispiel zu nehmen.

 

Wie sieht es mit fachübergreifenden Kompetenzen aus?

Es gibt zahlreiche Kompetenzen, die in vielen verschiedenen Bereichen angewendet werden können. Das ist beispielsweise beim 3D-Druck der Fall: Auch hier muss man die Logik dahinter verstehen, um ein Objekt auf einen Referenzpunkt zu setzen. Ganz egal, ob es sich nun um ein Metallbauteil, um ein Schokoladengebäck oder um Zahnprothesen handelt! Im Allgemeinen finde ich, dass Fähigkeiten wie Kreativität, Sozialkompetenz, Überzeugungskraft oder das Erklären eines Plans in der heutigen Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle spielen.

 

Wie kann das Vermitteln dieser Fähigkeiten attraktiver gestaltet werden?

Ich denke, für die Lernenden ist das Hauptkriterium die Relevanz. Die Jungen müssen einen Bezug herstellen können zwischen ihrem Beruf und dem vermittelten Stoff. Mit anderen Worten muss man das Gelernte in der Schule mit dem Alltag im Betrieb verbinden. Es ist wichtig, dem Gelernten einen Sinn zu geben. Um die Berufslehre aktiver zu gestalten, denke ich, dass man die Lernenden viel öfter vor ein Problem stellen sollte, das sie in einer gewissen Zeit zu lösen haben, und erst danach die Theorie vermitteln. Also das Gegenteil der heutigen Unterrichtsmethode. Konfrontiert man die Lernenden erst einmal mit einem Problem, das sie lösen müssen, sind sie danach eher bereit, sich mit der Theorie auseinanderzusetzen. Das trifft auf Lernende genauso zu wie auf Kadermitglieder.

 

Im Zuge der Coronapandemie wurde in allen Ausbildungsstätten auf Online-Unterricht umgestellt. Welche Veränderungen bringt das mit sich?

Der Online-Unterricht ist keine neue Erfindung, sondern existierte bereits vor der Pandemie. Dennoch bleibt es sehr schwierig, sich ausschliesslich online auszubilden und verlangt zudem enorm viel Selbstdisziplin. Daher rate ich davon ab, alles online durchzuführen. Was ich spannend finde, ist die Flexibilität des hybriden Unterrichts, also eine Mischung aus Präsenz- und Online-Unterricht. Es ist jedoch sehr wichtig, dass diese Mischform an die Zielgruppe und den zu vermittelnden Inhalt angepasst wird. Für Lernende braucht es ein anderes Verhältnis als in einer Weiterbildung für Erwachsene. Das technische Wissen erlangt man im Präsenzunterricht, während andere Kompetenzen online vermittelt werden können. Der Online-Unterricht bietet vor allem dann Flexibilität, wenn die Zielgruppe geografisch verteilt ist. Damit können Weiterbildungen Personen zugänglich gemacht werden, die sonst aus rein logistischen Gründen nicht teilnehmen würden.

 

Sie sind spezialisiert auf die Interaktion von Mensch und Maschine. Welche konkreten Probleme kann die Digitalisierung im Bereich der Bildung lösen?

Nehmen wir ein Beispiel: Augmented Reality, also die Anreicherung von realen Bildern mit digitalen Informationen, macht das Unsichtbare sichtbar, was für die Bildung einen echten Mehrwert darstellt. So wurden wir beispielsweise von Berufsschullehrern aus dem Bereich der Zimmerei kontaktiert. Sie brauchten ein Tool, das es den Lernenden ermöglicht, die Statik in nur drei Unterrichtsstunden zu begreifen, und zwar intuitiv, ohne Mathematik. Wir haben dafür eine App entwickelt, mit der man virtuelle Lasten auf einem dreidimensionalen Dachmodell platzieren kann. So können verschiedenste Dinge visualisiert werden: der Druck und die Kompression der Balken, die Veränderung und die Verteilung der Kräfte, die Deformation, wenn man Balken verschiebt oder andere Materialien und Grössen verwendet, was passiert, wenn man die Lasten unter dem Dach anbringt oder dieses mit Solarzellen bedeckt, und so weiter. Natürlich sind es nicht die Dachdecker auf der Baustelle, die die Statik eines Gebäudes berechnen, aber sie müssen die Logik dahinter verstehen und wissen, wie die Statik funktioniert, sei es nur, um die Balken in der richtigen Reihenfolge zu montieren oder zu demontieren, und dabei weitere Parameter wie beispielsweise die Windverhältnisse berücksichtigen.

 

Sie haben auch eine App entwickelt für die Ausbildung der Gärtner.

Für die Ausbildung der Gärtner haben wir eine App entwickelt, mit der die Veränderung eines Gartens über die Zeit dargestellt wird, natürlich dank Augmented Reality. Mit einer Drohne sammelt der Gärtner die notwendigen Daten, um den Garten digital dreidimensional darzustellen. Dann kann er darin Bäume pflanzen, sie versetzen, die Jahreszeit wechseln, Jahre vor- und zurückspulen oder den Schattenwurf eines Baumes auf die umliegenden Gebäude nach einer gewissen Zeit visualisieren.

 

Haben Sie ähnliche Tools geplant für den Einsatz auf der Baustelle?

Unsere Aufgabe ist es, Forschung zu betreiben. Wir entwickeln Anwendungen und testen diese. Manchmal gehen aus solchen Projekten dann Start-Ups hervor. Aber der Impuls muss aus der Branche kommen. Um auf ein Bedürfnis, das an uns herangetragen wird, zu reagieren, können wir beispielsweise Tools für Ingenieure entwickeln, die auch in der Ausbildung der Lernenden eingesetzt werden können.

 

In der Baubranche ist oft von BIM die Rede. Ab wann sollte es Ihrer Meinung nach ein Unterrichtsfach dazu geben?

Ich höre oft, dass die Lernenden zuerst zeichnen lernen sollten, aber ich bezweifle, dass dies heute wirklich noch der Fall ist. Meiner Meinung nach sollte BIM von Anfang an unterrichtet werden, denn die verschiedenen Software folgen immer mehr oder weniger derselben Logik. Es wäre absurd, wenn es noch Jahre dauern würde, bis man den Lernenden BIM vermittelt, wie es bei 3D-Technologien der Fall war, die lange nur den Kadermitarbeitenden in der Zimmerei vermittelt wurde, nicht aber den Lehrlingen.

 

Sie sind ein Pionier der internationalen MOOCs, und die MOOCs der EPFL haben seit ihrer Lancierung im Jahr 2012 drei Millionen Nutzer, vor allem in den USA. Stellen MOOCs eine Option dar für die Kaderausbildung?

Das firmeninterne Netzwerk ist für die Kader sehr wichtig. Es geht darum, die soziale Komponente der Ausbildung beizubehalten und beispielsweise Präsenzseminare abzuhalten anstatt diese durch Online-Kurse zu ersetzen. Damit der Transfer der im Seminar vermittelten Inhalte auf den Betrieb wirklich funktioniert, wäre meines Erachtens ein anderer Ansatz sinnvoller: Anstatt einen Experten während des Seminars zu Wort kommen zu lassen, könnte dieser zum Beispiel Videos aufnehmen, die die Teilnehmenden im Vorfeld anschauen müssten. Und während des Seminars wäre es nicht mehr der Experte, der präsentiert, sondern ein Teilnehmer. Die Aufgabe des Experten wäre es, auf das Vorgetragene zu reagieren und Tipps abzugeben, wie dieses Wissen im Berufsalltag eingesetzt werden könnte.

 

Im Jahr 2017 haben Sie den Swiss EdTech Collider gegründet, der heute rund neunzig Start-Ups aus dem Bereich der Bildungstechnologien vereint. Was ist das Ziel dieses Incubators?

Das Ziel dieser Art Agentur für digitale Bildung ist es, die Start-Ups sichtbarer zu machen, sowohl kunden- wie auch investorenseitig, und die Synergien unter den jungen Firmen zu fördern. Im Übrigen können sie auch in die Spitzenforschung der EPFL miteinbezogen werden. Es geht vor allem darum, einen Markt aufzubauen, denn die Schulen wissen oft nicht, welche Leistungen und Produkte sie einkaufen können. Konkret beginnt dies oft mit einer Zusammenarbeit zwischen Start-Ups und Schulen, die bereit sind, neue Technologien zu testen.

 

Was ist ihr Fazit nach dieser Pandemie im Bezug auf die Bildung?

Technisch gesehen funktioniert der Online-Unterricht gut. So haben Professoren beispielsweise festgestellt, dass die Studenten online mehr Fragen stellen als vor Ort, was durchaus positiv ist. Das Schwierigste waren aber die fehlenden sozialen Kontakte. Daher bin ich umso erfreuter, dass zum Semesterstart 2021 hin wieder auf Präsenzunterricht umgestellt werden konnte, trotz der pandemiebedingten Einschränkungen. In Zukunft werden wir gewisse digitale Elemente beibehalten, wie zum Beispiel das Aufzeichnen des Unterrichts. Ich persönlich fände es gut, wenn Videos immer zusätzlich zum Unterricht (und nicht anstelle des Unterrichts) zur Verfügung gestellt würden. Studien zeigen, dass sich damit die Leistungen der Studenten um eine Standardabweichung von 0.8 verbessern, was fast einem Punkt auf der klassischen Notenskala 1-6 entspricht. Der Mehrwert für die Studierenden ist also unbestritten.

Bild: EPFL/Alain Herzog

 

Über den Autor

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Corine Fiechter

Mediensprecherin / Spezialistin Kommunikation

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