Verdichtungsversagen in grossen Schweizer Städten

Agglomerationsstädte erhöhen ihre Bewohnerdichte, in den Grossstädten fehlen verdichtete Bauten. Nun nehmen diese immer weniger Steuern ein. Das könnte der Auslöser für einen Umschwung sein.

 

Erstmals leben 2023 in der Schweiz gemäss Bundesamt für Statistik mehr als 9 Mio Menschen. Jahr für Jahr nimmt die Bevölkerung zu. Der Wohnraum wird knapp. «Die Agglomerationsgemeinden absorbieren dieses Wachstum», so Remo Daguati, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Standortmanagement (SVSM). «Die grossen Städte verschärfen mit ihrer immer langwierigeren Stadt- und Raumplanung die Situation.» Es räche sich, dass die Rahmenbedingungen in vielen Städten für Firmen laufend verschlechtert würden.

 

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Exemplarisch für das Wachstum abseits der Grossstädte ist Bülach im Zürcher Unterland. 2000 hatte die Agglomerationsstadt 13 900 Einwohner – heute rund 24 500. Aber Bülach ist nicht einfach nur grösser geworden: Keine andere Schweizer Stadt hat ihre Bewohnerdichte pro Hektare Bauzone so deutlich erhöht wie Bülach.

Gemäss dem Beratungsunternehmen Wüest Partner beträgt der Zuwachs von 2017 bis 2022 18 Prozent. Dicht dahinter folgen Kloten und Schlieren. Wer von Zürich nach Wallisellen und Dübendorf oder von Luzern nach Kriens und Horw fährt, der erlebt dort ein Manhattan-Feeling mit futuristischen Hochhauskomplexen.

In den meisten grossen Städten fehlt diese Verdichtung. Als Gründe dafür nennt Daguati immer mehr Einschränkungen bei der Entwicklung von Wohn- und Geschäftsbauten. «Das geht vom Lärmschutz über Tieftempozonen und Quoten zum gemeinnützigen Wohnungsbau bis zu Anforderungen des Heimatschutzes und privaten Einsprechern.» Weitere Schwachstellen ortet er in der Raum- und Stadtplanung: «Die Ausbildung muss praxisnäher und weniger fachzentrisch sein.» Viele heute Verantwortliche träumten von rein auf ökologisch-soziale Aspekte ausgerichteten Städten. «Sie vergessen die ökonomischen Faktoren, die für jeden Investor zentral bleiben.»

Politisch ist die Sache klar: Das Schweizer Stimmvolk hat vor zehn Jahren einer Änderung des Raumplanungsgesetzes zugestimmt. Es soll kein weiteres Bauland mehr eingezont werden. Um die Zersiedelung zu bremsen, soll haushälterischer mit dem beschränkten Gut Boden umgegangen und verdichteter gebaut werden.

«Doch es passiert genau das Gegenteil», stellt Remo Daguati fest. Der ehemalige Leiter des Amts für Wirtschaft und Leiter Standortförderung des Kantons St. Gallen wohnt selber in der Ostschweizer Metropole: «Seit längerem kann ich hautnah eine Wanderbewegung von natürlichen Personen und von Firmen ins Umland beobachten.»

Eine neue Studie von Avenir Suisse bestätigt das. Gemäss dem Think Tank hat die relative Steuerkraft in acht von zehn Städten von 2016 bis 2021 abgenommen. Besonders stark ist der Rückgang in Basel (minus 20,6 Prozent), Genf (minus 11,7 Prozent), Zürich (minus 11,5 Prozent) und St. Gallen (minus 10,1 Prozent). Für Daguati ist das fatal: «Die urbanen Zentren müssen die Wirtschaftsmotoren der Schweiz bleiben – hier kreuzen sich elementare Verkehrs- wie auch Bildungs- und Forschungsinfrastrukturen.»

 

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Einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Wissenschaft haben den Ernst der Lage erkannt. Die Vereinigung für guten Städtebau «Urbanistica» um den Bau- und Immobilienunternehmer Balz Halter und den ETH-Architekturprofessor Vittorio Magnago Lampugnani hat ein Manifest für eine nachhaltige, qualitätssichernde Raumplanung und die Schaffung von genügend bezahlbarem Wohnraum lanciert.

Klar ist für die Initianten: «Wenn man jetzt nicht aktiv wird und genügend Raumangebote in städtischen Zentren schafft, werden die Preise weiter steigen und die Mobilität aus den Agglomerationen wird weiterwachsen.»

Die Vereinigung kritisiert, dass Städte mit dem Aufkommen der individuellen Mobilität in erster Linie auf Verkehrsplanung gesetzt hätten. Die Stadtplanung sei in Vergessenheit geraten. Im Manifest steht: «Nur durch eine hohe Nutzungsdichte können Stadtstrukturen im Sinne einer 15-Minuten-Stadt entstehen, wo mit geringem Mobilitätsaufkommen die wesentlichen Bedürfnisse der Bevölkerung gedeckt werden.»

«Urbanistica» hält fest, dass Stadtplanung eine zentrale Aufgabe der öffentlichen Hand sei. «Doch heute sind es meist privatwirtschaftliche Bauträger, die über Sondernutzungsplanungen Verdichtungen anstreben.» Aufgrund politischer und rechtlicher Risiken nehme diese Bereitschaft allerdings ab.

Dem pflichtet Daguati bei: «Die materielle und formelle Koordination hat auf Seite der Verwaltung stark nachgelassen, man überlässt es privatwirtschaftlichen Bauträgern, sich durch die Verfahren zu kämpfen.» Trotzdem bleibt er optimistisch: «Das stark sinkende Steuersubstrat könnte in verschiedenen Grossstädten zu einem Umdenken führen, sofern man die Lücken nicht über den Finanzausgleich stopft», so der Standort-Experte. Recht gibt ihm Avenir Suisse: «Ein florierender Wirtschaftsstandort wirkt sich auf das Steuersubstrat bei der Einkommenssteuer aus, da erfolgreiche Unternehmen mit hoher Produktivität den Arbeitnehmenden hohe Löhne zahlen. Finanzpolitisch profitiert die Stadt von diesem Effekt allerdings nur, wenn sich Personen wie Firmen nicht im Speckgürtel der umliegenden Gemeinden, sondern innerhalb der Stadtgrenzen niederlassen.» Die Städte seien deshalb gut beraten, sich vermehrt Gedanken um ihre wirtschaftliche und damit auch gesellschaftliche Attraktivität zu machen.

 

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Schweizerischer Baumeisterverband

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