«Digitalisierung betrifft alle, vom Chef bis zum Bauarbeiter»

Die Baubranche erlebt eine erstaunliche digitale Transformation. Die rasanten Fortschritte von Technologien und die Integration digitaler Lösungen verändern die Grundlagen der Zusammenarbeit auf dem Bau schnell.

Die Baubranche erlebt eine erstaunliche digitale Transformation. Die rasanten Fortschritte von Technologien und die Integration digitaler Lösungen verändern die Grundlagen der Zusammenarbeit auf dem Bau schnell. Silvia Bühler, Learning & Development (L&D), Marti AG, sagt, was diese Wandlung vorantreibt.

Frau Bühler, Sie sind bei der Firma Marti AG fürs Learning & Development (L&D) zuständig. Was hat L&D mit dem Bauen zu tun und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?

Die Verbreitung von Learning & Development (L&D) in der Schweiz variiert je nach Branche, Unternehmensgrösse und individueller Unternehmensphilosophie. Grosse Unternehmen und international tätige Organisationen in der Schweiz (Migros, SBB, Post, Universitätsspital Zürich, AXA) haben seit längerem etablierte L&D-Abteilungen, die sich auf die kontinuierliche Weiterbildung der Mitarbeitenden konzentrieren. Hier spielen Faktoren wie Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Fachkräfteentwicklung eine entscheidende Rolle. Wie die Infografik zeigt, hat sich das Bauhandwerk in den vergangenen Jahren nur geringfügig verändert. Trotzdem hat der Kostendruck zugenommen, der Fachkräftemangel verschärft sich, die Umwelt sowie Nachhaltigkeit spielen eine immer wichtigere Rolle. Gleichzeitig haben sich die gesetzlichen Vorschriften und branchenspezifischen Normen zur Arbeitssicherheit verschärft. In Anbetracht der Dynamik der Baubranche und ihrer zunehmenden Notwendigkeit, mit technologischen Entwicklungen Schritt zu halten, kann die Etablierung einer robusten L&D-Kultur einen bedeutenden Beitrag zur langfristigen Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit leisten. Insgesamt befasst sich L&D mit der systematischen Entwicklung von Schulungsinhalten, die dazu beitragen, dass die Mitarbeitenden die Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, um ihre Aufgaben erfolgreich zu bewältigen.

© Stephan Haessig, Bereichsleiter Innovation & Entwicklung, Marti AG, Bauunternehmung

 

Die Vorteile der Digitalisierung gilt es erfolgreich zu nutzen. Was empfehlen Sie?

Die Zielsetzung besteht darin, aus spezialisierten Technikern neugierige Entdecker zu formen, wobei das übergeordnete Ziel, weiterhin mit den Händen zu bauen, nicht aus den Augen verloren werden darf. Gleichzeitig gilt es, die neuen digitalen Möglichkeiten zu nutzen. Dies erfordert ein tiefes Verständnis dafür, welche Methoden am besten für welche Tätigkeiten eingesetzt werden können. Auf diese Weise können Fachkräfte ihre Fertigkeiten erweitern und die Vorteile der Digitalisierung voll ausschöpfen, während sie ihre handwerklichen Fähigkeiten weiterhin bewahren. Ich empfehle, zunächst in die Schulung und Entwicklung der digitalen Fähigkeiten der Mitarbeitenden zu investieren. In einer Zeit, in der die Digitalisierung unvermeidlich ist, sollte sie als Chance betrachtet werden. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Digitalisierung heute eine grundlegende Veränderung der Arbeitsmethodik erfordert.

Viele, die seit Jahren zum Beispiel mit dem PC arbeiten, lernen nicht gerne eine neue Arbeitsmethode kennen, die grundlegend alles verändert.

Das verstehe ich und diese mangelnde Bereitschaft lässt sich gut anhand des Uhrbeispiels erklären. In der Vergangenheit trugen die Menschen analoge Uhren am Handgelenk, was mit der Einführung des PCs verglichen werden kann – eine Art Informatisierung. Dann folgte die digitale Uhr mit einem Display, was den Übergang zur Digitalisierung darstellt. Heute befinden wir uns inmitten der digitalen Transformation, symbolisiert durch die Smart Watch. Sie ist nicht nur ein Zeitmesser, sondern ein multifunktionales Gerät. Ähnlich verhält es sich mit der digitalen Transformation: Sie steht für tiefgreifende Veränderungen durch den intensiven Einsatz fortschrittlicher digitaler Technologien. Dies beinhaltet den Wechsel vom traditionellen Server-Setup zu Cloud-Services, die Anwendung und Navigation in verschiedenen Applikationen, die Integration von Big Data-Technologien sowie den Einsatz von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen.

Die digitale Transformation betrifft nicht nur die betrieblichen Leistungsprozesse in Unternehmen, sondern beeinflusst grundlegend die Interaktionen mit Kunden und Partnern sowie die Gestaltung der Geschäftsmodelle.

Genau. In der gleichen Weise, wie die Smart Watch weit mehr kann als nur die Zeit anzeigen – Puls messen, Musik abspielen, Nachrichten empfangen, Telefonfunktionen – bietet die digitale Transformation ein breites Spektrum an Möglichkeiten, um Geschäftsprozesse zu optimieren, Innovationen zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Daher ist die Anpassung an diese digitale Ära entscheidend, um die vielfältigen Potenziale voll auszuschöpfen.

Was heisst dies bezogen auf Baustellen?

Daten und Informationen sind nicht mehr statisch, sondern dynamisch, was den bereits schnellen Informationsfluss auf Baustellen noch weiter beschleunigt. Diese aktuelle Phase der Digitalisierung bringt mehr Transparenz mit sich und erfordert neue Modelle der Zusammenarbeit, wie Building Information Modeling (BIM) und Integrated Project Delivery (IPD). Gefragt sind also immer mehr fachübergreifendes Zusammenarbeiten und Interdisziplinarität. Dies führt zu erhöhten Anforderungen an die Kommunikation. Um die Chancen, die diese Entwicklung mit sich bringt, zu nutzen, ist zunächst eine Investition in die Mitarbeitenden erforderlich. Wir wollen unsere Mitarbeitenden befähigen, nicht bevormunden. Es geht nicht nur darum, neue Instrumente zu erlernen, sondern um das Erlangen neuer Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation, Informationsfluss, Umgang mit Daten, Prozessverständnis, Identifikation mit Arbeitsabläufen, Verbesserung sowie die Orientierung über mehrere Kommunikationskanäle, um Transparenz in der Zusammenarbeit und bei den Daten zu gewährleisten.

Was ich als Mitarbeitender jetzt lerne, kann ich auch in meinem Privatleben nutzen?

Ja, denn die Digitalisierung begegnet uns nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben. Poststellen schliessen, Bankfilialen reduzieren ihre Präsenz, die SBB schafft bis 2035 ihre Billettautomaten ab und reduziert gleichzeitig die Schalteröffnungszeiten, da ihre Dienstleistungen digital verfügbar sind. Warum sollten wir also nicht alle Mitarbeitenden befähigen, sich in dieser bereits präsenten Richtung weiterzuentwickeln?

Heute befinden wir uns inmitten der digitalen Transformation, symbolisiert durch die Smart Watch.

Nennen Sie ein, zwei Beispiele für die erfolgreiche Digitalisierung bei der Marti AG?

Ich habe eine Mitarbeiter-App eingeführt, die ursprünglich als reines Kommunikationsmittel zur Erreichung aller Mitarbeitenden gedacht war. Die App kann jedoch weit mehr als nur die Vernetzung der Mitarbeitenden untereinander sicherstellen oder die Erreichbarkeit gewährleisten. Deshalb habe ich ein Produkt entwickelt, um unsere Monatsthemen im Bereich Arbeitssicherheit auch digital anzubieten. Das Ziel ist eine einfache, visualisierte Darstellung, um sich interaktiv mit dem Thema Arbeitssicherheit auseinanderzusetzen. Mitarbeiter können einfache Quizfragen zu lebenswichtigen Regeln lösen, und diese werden gleich in der jeweiligen Muttersprache des Arbeitnehmers angeboten. Durch diese Schulung der Mitarbeitenden erreichen wir einen hohen Lerneffekt, vereinfachen und automatisieren administrative Prozesse. Hier treffen Digitalisierung und Learning & Development (L&D) ideal aufeinander. Bei der Einführung von Office 365 als Plattform für die Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg wird deutlich, dass es nicht ausreicht, nur ein weiteres Programm auf den PC zu installieren. Es erfordert Zeit, das neue Programm kennenzulernen, und noch mehr Zeit, sich die neuen Arbeitsmethoden anzueignen. Ein offener Arbeitsraum, Coaches und die Nutzung des Programms One-Note ermöglichen eine enge Begleitung. Themen sind heutzutage zu komplex, um sie den Mitarbeitenden einfach in den laufenden Arbeitsprozess zu integrieren.

Was müssen Bauunternehmen machen, damit sie die Digitalisierung erfolgreich bewältigen?

Wenn ein Bauunternehmen behauptet, dass die Mitarbeitenden ihr wichtigstes Gut sind, muss es sich auch bewusst sein, dass für viele die Digitalisierung kein Lieblingsthema ist. Daher ist es erforderlich, in die Begleitung der Mitarbeitenden zu investieren, wenn man sich im Bereich Digitalisierung weiterentwickeln möchte. Man kann nicht einfach einen neuen Beruf schaffen und jemanden einstellen, der sich um alle Themen der Digitalisierung kümmert. Digitalisierung betrifft alle Mitarbeitenden, vom Chef bis zum Bauarbeiter auf der Baustelle. Diese Herausforderung kann nur als Unternehmen gemeinsam gelöst werden – alles andere wäre eine verpasste Chance.

 

Interview: Werner Schüepp

Mit dem Masterplan «SBV-Berufsbildung 2030» modernisiert der SBV die Aus- und Weiterbildung im Bauhauptgewerbe. Viele der im Interview angesprochenen Punkte werden darin aufgenommen. Der Masterplan verfolgt einen ganzheitlichen und praxisorientierten Ansatz. Damit sichert er die Zukunft mit genügend und gut ausgebildeten Fachkräften. Mehr über den Masterplan «SBV-Berufsbildung 2030» erfahren.

 

Über den Autor

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Schweizerischer Baumeisterverband

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