Mobilität: Praktische Überlegungen sind wichtiger als ökologische Aspekte

Eine Studie der EPFL zeigt, dass Schweizerinnen und Schweizer, die in der Stadt ins Auto steigen, dies oft nur mangels fehlender Alternativen tun. Zudem spüren Frauen, die sich in den meisten Fällen auch um den Transport der Kinder kümmern, die Auswirkungen der immer erschwerteren Bedingungen im Strassenverkehr vor allen anderen. Anstatt sie zu stigmatisieren, sollte man ihnen zweckmässige Lösungen bieten. Denn weitere Überlegungen, beispielsweise in Sachen Umweltschutz, kommen erst ins Spiel, wenn die praktischen Bedürfnisse erfüllt sind.  

 

Es ist ein Erklärungsversuch, den man nach dem Nein zum CO2-Gesetz oft hat hören können: Die Stadtbevölkerung, die über ein gut ausgebautes ÖV-Netz verfügt, stand dem Gesetz eher positiv gegenüber, während es von der Bevölkerung in weniger zentralen und ländlichen Gebieten, die aufs Auto angewiesen ist, abgelehnt wurde. Und trotzdem: Auch wenn sie faktisch weniger aufs Auto angewiesen ist, zieht auch die Stadtbevölkerung den motorisierten Individualverkehr dem öffentlichen Verkehr vor, wie die Studie «Baue deine Schweiz der Zukunft» gezeigt hat. Der Wunsch nach individueller Freiheit ist zweifelsohne einer der Hauptgründe dafür. Doch über die ideologischen Bestrebungen hinaus, die durch die aktuelle Impfdebatte noch verstärkt werden, spielen bedeutend nüchternere Argumente eine Rolle. Das zeigt eine im Mai publizierte Studie der EPFL in der Fachzeitschrift Mobilities.

Anstatt Mega-Trends aus quantitativen Daten ableiten zu wollen, haben sich die Forscherinnen für die Gründe interessiert, weshalb die Bewohnerinnen und Bewohner von Basel und Genf ein bestimmtes Verkehrsmittel wählen, aber auch dafür, wie man von einer Mobilitätsform zu einer anderen wechselt. Dabei hat sich herausgestellt, dass individuelle, alltägliche Anforderungen das Verkehrsmittel vorgeben, und nicht etwa ökologische Gründe.

Oberstes Ziel ist es, die Herausforderungen des Alltags zu meistern 

Heute macht das Auto ungefähr einen Drittel der Verkehrswege in den Schweizer Städten aus. Während das Auto früher noch mit Fahrspass, Freiheit und Status assoziiert wurde, stehen heute vielmehr praktische Gründe im Vordergrund. Tatsächlich wird das Auto heute als das Mittel schlechthin betrachtet, um die Herausforderungen des immer komplexeren und stressigeren Alltags zu meistern. So sind es grossmehrheitlich Autofahrerinnen und Autofahrer, die in den Stosszeiten unterwegs sind, insbesondere Mütter, die sich auch heute noch in den meisten Fällen um den Transport der Kinder kümmern, während die Väter gerne aufs Elektrovelo umsteigen. Die Realität entspricht damit so gar nicht dem Klischee des triumphierenden Alphamännchens, der sich am Steuer seines glänzenden 4x4 im Stadtzentrum in Szene setzt.

Die Studie zeigt, dass praktische oder hedonistische Gründe, aber auch Gewohnheiten für die Wahl des Verkehrsmittels ausschlaggebend sind, und nicht etwa ökologische Überlegungen. Wer sich für den Weg zu Fuss oder per Velo entscheidet, tut dies primär zur Vergnügung, während das Auto oft als «notwendiges Übel» betrachtet wird, da Autofahrten generell stressiger, teurer und umständlicher sind. Angesichts der immer zahlreicheren Schikanen wie die Aufhebung von Parkplätzen und einer ganzen Palette an Ordnungsbussen werden die Autofahrer gleich doppelt bestraft, da sie ja keine valable Alternative haben, um ihren Alltag zu bestreiten.

Offenheit gegenüber verschiedenen Transportmitteln, sofern Lösungen vorhanden sind 

Eltern, die mit ihren Kindern in der Stadt wohnen, probieren oft erst mit zunehmender Selbständigkeit der Kinder andere Verkehrsmittel aus, wie beispielsweise den Zug. Auch ökologische Argumente beginnen erst ab diesem Zeitpunkt eine Rolle zu spielen. Ökologische Aspekte bestimmen also nicht in erster Linie die Mobilitätsform, sondern werden erst berücksichtigt, wenn glaubhafte Lösungen vorhanden sind. So zeigen sich Personen, die das Auto zugunsten der sanften Mobilität oder des öffentlichen Verkehrs aufgegeben haben, grundsätzlich zufrieden. Damit zeigt sich, dass man den Autofahrern, die es sich gerade aus familiären oder beruflichen Gründen nicht leisten können, auf das Auto zu verzichten, pragmatische und wirkungsvolle Lösungen bieten muss, anstatt ihnen die Schuld für die Verkehrsprobleme zu geben und das Autofahren immer stärker einzuschränken.

Die jüngsten Pilotprojekte von Mobility Pricing gehen in die falsche Richtung 

Die aktuellen Pilotprojekte des Bundes in Sachen Mobility Pricing gehen in die falsche Richtung, denn sie zielen primär darauf ab, die pendelnden Autofahrer mit Preisaufschlägen für ihre Fahrten in den Stosszeiten noch mehr zu bestrafen. Vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der Bevölkerung mal Fussgänger, mal Velofahrer, mal Autofahrer und mal ÖV-Benutzer ist, braucht es eine pragmatischere und ausgeglichenere Verkehrspolitik, um eine effiziente, sichere, multimodale Mobilität für alle Verkehrsteilnehmer zu garantieren.

Ein Mobility Pricing, das auf den tatsächlichen Fahrten basiert, unabhängig vom Verkehrsmittel, wäre ein viel effizienterer und fairerer Weg, um der Bevölkerung eine sichere und leistungsfähige Mobilität zu bieten. Und dies, ohne ein Verkehrsmittel zu diskriminieren oder zu verteufeln.

Download der Studie (in englischer Sprache) hier.

 

Über den Autor

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Corine Fiechter

Mediensprecherin / Spezialistin Kommunikation

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