Analyse zum vertragslosen Zustand: Vieles wird ohnehin im Arbeitsgesetz geregelt

Noch bis Ende 2022 ist der Landesmantelvertrag (LMV) für das Bauhauptgewerbe in Kraft. Bereits jetzt laufen die Vorbereitungen zu Verhandlungen über die Zukunft des LMV auf Hochtouren. Doch auch wenn ein neuer LMV 2023 als angestrebtes Ziel gilt, stellt sich die Frage, wie ein Arbeitsverhältnis ohne LMV aussehen würde. Die rechtlichen Grundlagen zum Arbeitsverhältnis bestünden nämlich auch während eines vertragslosen Zustandes.

Der LMV im Zusammenspiel mit Obligationenrecht und Arbeitsgesetz

Ein Gesamtarbeitsvertrag wie der LMV ist kein in sich allumfassender Arbeitsvertrag, welcher auf der “grünen Wiese” und frei von gesetzlichen Vorgaben abgeschlossen werden kann. Die Grundlage für sämtliche Bestimmungen im LMV bildet grundsätzlich immer das schweizerische Recht und seine gesetzlichen Vorgaben. Allen voran geben dabei die Regelungen zum Arbeitsvertrag im Obligationenrecht (OR) und das Arbeitsgesetz (ArG) mit seinen Verordnungen den Rahmen vor. Allein daraus ergibt sich, dass ein Auslaufen des LMV per 31. Dezember 2022 keinen rechtsfreien Raum hinterlassen würde.

OR und AR bilden stabile Rahmenbedingungen

Für die allermeisten im LMV vorhandenen Regelungen besteht ein gesetzliches Pendant im OR oder im Arbeitsgesetz. So würden sich die Regelungen zur Kündigung, zur Lohnfortzahlung bei Krankheit und Unfall oder zu den Ferien in der Hauptsache nach den Bestimmungen des OR richten. Das ArG würde den Rahmen im Bereich des Gesundheitsschutzes und bezüglich der zulässigen Arbeitszeit, der Ruhezeit sowie der Nacht- und Sonntagsarbeit vorgeben. Damit wäre der Schutz des Arbeitnehmers weiterhin auf einem hohen Niveau sichergestellt. Zudem würde der Handlungsspielraum und die Entscheidungsmöglichkeiten für den Arbeitgeber gegenüber dem engen Korsett des LMV deutlich grösser.

Keine Auswirkung auf geltende und neue Arbeitsverhältnisse zu befürchten

Mit dem schriftlichen oder mündlichen Abschluss des Einzelarbeitsvertrages, welcher auf dem LMV beruht, wurden auch dessen Bestimmungen Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Ein Wegfall des LMV per Ende 2022 führt damit nicht automatisch zur Änderung des Arbeitsverhältnisses, sondern zur sogenannten individualrechtlichen Nachwirkung der Bestimmungen des LMV im einzelnen Arbeitsverhältnis, weshalb die Arbeitsbedingungen für alle am 1. Januar 2023 laufenden Arbeitsverhältnisse ohnehin gleichbleiben würden.

Für Neuanstellungen während eines vertragslosen Zustandes sind die Bestimmungen des dannzumal abgelaufenen LMV nicht mehr massgebend. Ein neu eingegangenes Arbeitsverhältnis untersteht ab diesem Zeitpunkt noch den allgemeinen Regelungen von ArG und OR. Insbesondere im Bereich der Arbeitszeit könnten so beispielsweise die Kompensation von Überstunden durch Freizeit vereinbart werden oder der Lohn des Arbeitnehmers den Leistungen angemessen festgelegt werden.

Auch keine Auswirkungen auf orts- und branchenübliche Lohn- und Anstellungsbedingungen

Doch selbst dann gilt, dass der Lohn, die Sozialversicherungsbeiträge und die Arbeitsbedingungen den orts-, branchen- und berufsüblichen Verhältnissen entsprechen müssen. Im Rahmen des freien Personenverkehrs mit der EU greifen auch ohne LMV die flankierenden Massnahmen, welche sicherstellen, dass ausländische Arbeitnehmende zu den in der Schweiz üblichen Löhnen und Arbeitsbedingungen angestellt werden. Auch ausländische Firmen, die Mitarbeitende in die Schweiz entsenden, müssen diese Bedingungen zwingend einhalten und deren Erfüllung nachweisen, auch während eines vertragslosen Zustandes. Die heutigen Mindestlöhne würden für Entsendebetriebe über die Orts- und Branchenüblichkeit auch nach Auslaufen des LMV nachwirken.

Grundsätzlich kein “Wilder Westen” auf dem Bau

Auch bei einem vertragslosen Zustand im Bauhauptgewerbe würden weiterhin Kontrollen zur Einhaltung der orts-, branchen- und berufsüblichen Anstellungsbedingungen stattfinden. Anstelle der bekannten paritätischen Berufskommissionen würden diese Aufgaben von den kantonalen Tripartiten Kommissionen (TPK) übernommen.

Die TPK beobachtet den Arbeitsmarkt und legt Risikobranchen fest, in welchen die kantonale Kontrollstelle die vom Gesetz geforderten Kontrollen bezüglich Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen in Branchen ohne allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV) durchführt.

Bei Missbräuchen, welche ein bestimmtes Ausmass erreichen und negative Auswirkungen auf das Lohngefüge einer Branche mit sich bringen, kann die TPK zudem den Erlass eines befristeten Normalarbeitsvertrages mit zwingenden Mindestlöhnen beantragen (NAV).

Keinen LMV um jeden Preis

Betrachtet man diese Ausgangslage genauer, stellt man fest, dass der Verzicht auf einen Gesamtarbeitsvertrag für einzelne Bauunternehmern vorderhand kaum grosse Veränderungen mit sich bringen würde. Mit den bereits heute existierenden gesetzlichen Grundlagen ist schon ein enger Rahmen der Möglichkeiten im Arbeitsverhältnis abgesteckt. Der Schweizerische Baumeisterverband kann somit mit dem Bewusstsein in die anstehenden LMV-Verhandlungen steigen, dass das Bauhauptgewerbe keinen LMV «um jeden Preis» benötigt.

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Michael Kehrli

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